Lord Byron: Leben und Werk des englischen Romantikers

Lord Byron: Leben und Werk des englischen Romantikers
Lord Byron: Leben und Werk des englischen Romantikers
 
Lord Byrons Ruhm gründet sich nicht nur auf sein dichterisches Werk, sondern in hohem Maße auch auf sein bewegtes Leben. Die Persönlichkeit des genialen englischen Romantikers war vielschichtig: Er war melancholischer Einzelgänger und Mittelpunkt der Londoner High Society, zynischer Menschenverachter und skandalumwitterter Frauenheld, Mitglied des englischen Oberhauses und Anwalt unterdrückter Arbeiter, überheblicher englischer Aristokrat und als begeisterter Europäer Kämpfer für die griechische Unabhängigkeit. Selbst sagte er 1819: »Nur Mut! Folgt meinem Beispiel. Ich bin ein Weltbürger. Alle Länder sind mir gleich lieb.«
 
In seinen Werken schwankt er zwischen melancholischer Resignation und beißendem Spott. Goethe nannte ihn »ein unvergleichliches Talent« und rühmte seine »Kühnheit, Keckheit und Grandiosität«. Er stellte ihn über jeden deutschen Dichter seiner Zeit.
 
 Kindheit und Jugend
 
George Gordon Noel Byron kam am 22. Januar 1788 als einziger Sohn John Byrons und seiner zweiten Frau Catherine geborene Gordon in London zur Welt. Sein rechter Fuß war von Geburt an deformiert, was ihn zeit seines Lebens körperlich beeinträchtigte und seelisch quälte.
 
Sein Vater, ein Lebemann, der sich aus Angst vor seinen Gläubigern meist in Frankreich aufhielt, starb 1791. Die Mutter, eine Schottin, zog daraufhin mit ihrem dreijährigen Sohn nach Aberdeen. Zu ihr, die er spöttisch »Mrs Byron furiosa« nannte, hatte der Dichter bis zu ihrem Tod 1811 ein gespaltenes Verhältnis, das zwischen Liebe und Hass schwankte und in späteren Jahren in offener Ablehnung gipfelte. Nicht zu Unrecht bezeichnete er sie als grob und ungebildet. So schrieb er seiner aus der ersten Ehe des Vaters stammenden Halbschwester Augusta: »... sie bekommt Wutanfälle, beleidigt mich, als sei ich der mieseste Wicht der Welt. .. Muss ich diese Frau Mutter nennen?«
 
Bereits in frühester Kindheit las Byron mit Eifer die antiken Klassiker von Horaz bis Vergil sowie alle bedeutenden englischen Schriftsteller. Er selbst behauptete, er habe bis zu seinem fünfzehnten Lebensjahr 4 000 Romane gelesen.
 
Als 1798 sein Großonkel William starb, wurde George sechster Lord Byron. Für den Zehnjährigen bedeutete dies urplötzlich eine herausgehobene Stellung in der Schule, wo er bis dahin nur ein Schüler unter vielen gewesen war, nun aber mit »Dominus« angeredet wurde.
 
Mit dem Titel erbte er neben anderen Besitztümern das Anwesen Newstead Abbey, seit der Zeit Heinrichs VIII. Familiensitz der Byrons. Das Schloss mit der angrenzenden gotischen Klosterruine inspirierte gerade seines verfallenen Zustandes wegen die lebhafte Fantasie des Jungen. Park und See luden ein zu romantischen Spaziergängen. Wann immer er sich hier in späteren Jahren von seinem ausschweifenden Leben in der Londoner High Society erholte, veranlasste ihn die Abgeschiedenheit der Ruine zu romantischen Reflexionen über die Vergänglichkeit des Seins, mitunter auch zu Inszenierungen morbider Gelage mit Mönchskutten und Totenschädeln, die als Trinkgefäße verwandt wurden.
 
Seine Jahre in der Eliteschule Harrow (1801-1805) behielt er lebenslang in guter Erinnerung. Diese in der Rückschau romantisch verklärte Zeit beschwor er später in einem Gedicht. Ob die darin besungenen Jungenfreundschaften nur platonischer Natur waren, bleibt im Dunkeln.
 
Eine hervorstechende Charaktereigenschaft Byrons war seine Tierliebe. So setzte er seinem Hund Boatswain, um den er trauerte wie um einen guten Freund, ein monumentales Grabmal im Park von Newstead, für das er selbst eine Grabinschrift verfasste. Und in Cambridge umging er das Verbot, Hunde zu halten, indem er sich einen zahmen Bären anschaffte. Auf die Frage, was er mit dem Tier wolle, antwortete Byron, dass sich der Bär »einen Magister ersitzen« solle. Byron hielt nichts von der universitären Ausbildung seiner Zeit, die er in einem Gedicht als völlig weltfremd kritisierte, da sie zwar klassische Bildung vermittle, aber englische Geschichte und zeitgenössische Literatur vernachlässige.
 
 Studium in Cambridge
 
Byron selbst fiel während seiner Studienzeit in Cambridge weniger durch akademische Leistungen auf als vielmehr wegen seines extravaganten Lebensstils, für den er sich hoch verschuldete. Schon hier hatte er einen Diener und unterhielt zahlreiche Mätressen; auch ist gesichert, dass ihn eine homoerotische Beziehung mit dem Chorknaben John Edleston verband. Nach dessen Tod Jahre später verfasste Byron tief getroffen einen poetischen Nachruf. Noch während der Zeit in Cambridge erschien sein erster in größerer Auflage veröffentlichter Gedichtband, Stunden des Müßiggangs, der das Thema seiner großen späteren Dichtungen vorwegnimmt, die Verzweiflung an der Welt, die den hohen Idealen des aufstrebenden Geistes nicht standhält und als einzigen Ausweg die Flucht in die Natur lässt.
 
Die naive, sentimentale Naturschwärmerei seiner romantischen Zeitgenossen war Byron jedoch ein Gräuel; seine Vorbilder waren vielmehr die großen klassizistischen englischen Dichter des 18. Jahrhunderts, die er der Formvollendung ihrer Werke wegen tief verehrte. Nicht zufällig erreichte er daher sein erstes großes literarisches Publikum mit seiner Satire Englische Barden und schottische Kritiker , einer bissigen Abrechnung mit böswilligen Rezensenten seines ersten Gedichtbandes; auch viele seiner Dichterkollegen blieben von Byrons sarkastischem Spott nicht verschont.
 
Der wichtigste Freund aus der Studienzeit in Cambridge war der später als liberaler Politiker bekannt gewordene John Cam Hobhouse, der trotz aller späteren Skandale des Dichters stets zu ihm hielt, auch wenn dies der eigenen Karriere im öffentlichen Leben nicht immer zuträglich war. Er war es auch, der Byron auf seiner ersten »Pilgerfahrt« begleitete.
 
 Byrons erste Mittelmeerreise
 
Im Jahr 1809 brachen Byron und Hobhouse mit einigen Dienern zu einer Reise durch Südeuropa auf, die zwei Jahre dauern sollte und Byrons Leben von Grund auf veränderte. Nach Aufenthalten in Portugal, Spanien und Malta erreichten sie im September 1809 Griechenland. Von dort reiste Byron nach Albanien, wo er den Herrscher des Landes, Ali Pascha, traf, der ihn wie einen ausländischen Staatsgast empfing, eine Ehrenbezeigung, die dem Dichter auch von allen anderen literarischen und politischen Größen, die er auf seinen Reisen besuchte, entgegengebracht wurde.
 
Im Norden Kleinasiens durchschwamm er den Hellespont, die Meerenge zwischen Europa und Asien, eine Strecke von sechs Kilometern. Mit dieser Tat, durch die er Leander, einem Helden der griechischen Mythologie und Legende gewordenen Liebhaber, nacheifern wollte, brüstete er sich bis zu seinem Tod. Am eindrücklichsten jedoch waren seine Erfahrungen in Athen, wo Byron sich während seiner Reise immer wieder länger aufhielt. Hier nahm er erste Kontakte mit der erstarkenden griechischen Widerstandsbewegung gegen die türkische Besatzung auf.
 
Doch nicht nur sein Geist, wie er aus den großen in Griechenland entstandenen Werken spricht, scheint von der romantischen Umgebung der Ruinen Athens beflügelt worden zu sein. Seinem Freund Hobhouse, der nach etwa einem Jahr nach England zurückgekehrt war, schrieb er im Mai 1811: »Ich hatte eine Reihe griechischer und türkischer Frauen, und ich glaube, die anderen Engländer hatten ähnlich viel Glück, denn wir hatten alle den Tripper.« Im März 1811 verließ Byron endgültig Athen und landete im Juli in Kent, nachdem ihn bei einem einmonatigen Zwischenstopp in Malta ein englischer Armeearzt von seinen diversen Leiden kuriert hatte.
 
Eine der ersten Nachrichten, die ihn nach seiner Ankunft in der Heimat erreichten, war die vom Tod seiner Mutter. Trotz aller Auseinandersetzungen, die er mit ihr gehabt hatte, hielt er ihr zugute, dass sie sein Anwesen zuverlässig und sparsam verwaltet hatte.
 
 Literarischer Ruhm und gesellschaftlicher Ruin in London
 
Seit seiner Jugend hatte Byron davon geträumt, es den großen klassischen Rhetorikern gleichzutun und als politischer Redner zu Ruhm zu gelangen. Mit seiner Jungfernrede im Oberhaus wollte er seine politische Karriere einläuten. Diese war jedoch von Anfang an zum Scheitern verurteilt, da sich sein aristokratischer Hochmut nicht glaubwürdig mit seinen Sympathiebekundungen für unterdrückte Arbeiter vereinbaren ließ.
 
Über den Misserfolg als politischer Redner tröstete ihn der literarische Erfolg seines ersten großen Werkes hinweg. Die ersten beiden Gesänge von Childe Harolds Pilgerfahrt, des Versepos, an dem er während seiner gesamten Reise gearbeitet hatte, machten ihn über Nacht bekannt. Childe Harolds Pilgerfahrt ist die Geschichte eines jungen Aristokraten, der vor der moralisierenden englischen Gesellschaft flieht. Da Byron nahezu unverschlüsselt seine eigenen Erfahrungen und Reiseerlebnisse verarbeitet hatte, setzte seine Leserschaft die Titelgestalt Harold mit ihrem Autor gleich. Als Ausdruck von Byrons melancholischem Genie ist Childe Harold das eindringlichste Dokument des Weltschmerzes seiner Zeit ebenso wie der Enttäuschungen über die politische Unterdrückung und kulturelle Verarmung, die der Dichter allenthalben wahrzunehmen glaubte.
 
Der literarische Erfolg von Childe Harold machte den Autor zum begehrtesten Junggesellen der Londoner Salons. Er war weiblichen Gunstbezeugungen nie abgeneigt. Das berüchtigtste seiner Verhältnisse, das bald zum Stadtgespräch wurde, verband ihn mit der verheirateten Lady Caroline Lamb. Als Byron diese Affäre beenden wollte, sorgte Caroline durch öffentliche Szenen erst recht für einen Skandal. Ihre Hysterie gipfelte darin, dass sie verkleidet in Byrons Privatgemächer eindrang, ihm obszöne Briefe schrieb und rituelle Verbrennungen seiner Bilder, Briefe und Werke inszenierte. In ihrem literarisch fragwürdigen, seiner skandalösen Enthüllungen wegen jedoch sehr erfolgreichen Roman Glenarvon verarbeitete Caroline Lamb ihre Beziehung zu Byron und sagte über ihn, er sei »mad, bad and dangerous to know« (»verrückt, schlecht und gefährlich zu kennen«).
 
Noch während seiner Affäre mit Caroline Lamb lernte er Annabella Milbanke kennen, eine behütete Tochter aus wohlhabendem Haus, mit philosophischen, literarischen und, für Byron ein Graus, auch mathematischen Interessen. Dafür verpasste ihr Byron den Spitznamen »Prinzessin der Parallelogramme«. Ihre Keuschheit und Naivität weckten seinen Eroberungsdrang. Im Oktober 1812 machte er ihr den ersten Heiratsantrag, den sie jedoch noch ablehnte.
 
Im Juni 1813 zog seine Halbschwester Augusta Leigh nach London. Byron, der Augusta bis dahin nur flüchtig gekannt hatte, fühlte sich sofort zu ihr hingezogen. Sie war fünf Jahre älter als ihr Bruder, nicht gerade eine Schönheit, hatte aber das byronsche Profil und das gleiche lebhafte Temperament. Seine Beziehung zu ihr war mehr als nur geschwisterlich, und er empfand einen beinahe zwanghaften Drang, die damit verbundenen Schuldgefühle zu offenbaren. So gestand er seiner mütterlichen Freundin Lady Melbourne unzweideutig sein intimes Verhältnis zu seiner Schwester. Obwohl er sich schon bald äußerlich von Augusta löste, ließ er doch bis an sein Lebensende durchblicken, dass sie die wichtigste Frau in seinem Leben gewesen sei.
 
Die »Gerüchte«, die über diese Beziehung in London kursierten, schädigten sein gesellschaftliches Ansehen schwer. Nicht zuletzt um sich zu rehabilitieren, verstärkte Byron, wohl auch auf Anraten seiner Freunde, seine Bemühungen um Annabella Milbanke, die nach langem Briefwechsel schließlich in die Heirat einwilligte. Während dieser Zeit war Byron nie frei von Zweifeln, was die Wahl seiner Braut sowie seine eigene Bindungsfähigkeit betraf.
 
Die Hochzeit am 2. Januar 1815 fand im kleinen Kreis von Annabellas Familie statt und passte so gar nicht zu Byrons schillernder Persönlichkeit und seinen sonstigen rauschenden Festen. Als Einziger seiner Freunde nahm Hobhouse an der Zeremonie teil. Am selben Tag schrieb dieser: »Ich fühlte mich, als hätte ich einen Freund begraben.«
 
Schon auf der Hochzeitsreise, die das Brautpaar auf den Landsitz der Familie Milbanke führte, zeichnete sich ab, dass diese Verbindung nicht glücklich werden konnte. Byron saß die meiste Zeit allein in der Bibliothek. In seinem übersteigerten Individualismus und Egoismus konnte er Annabella nicht lange in seiner Nähe ertragen. Er war depressiv, wozu sicherlich auch seine drückenden Schulden von über 30 000 Pfund beitrugen.
 
Als sie im März zusammen für einige Tage Augusta besuchten, schlug Byrons schlechte Laune in beißenden Zynismus um. Er versuchte, so oft wie möglich mit seiner Schwester allein zu sein, indem er seine Frau unsanft ins Bett schickte. Augustas Weigerung, die Intimitäten wieder aufzunehmen, brachte ihn dazu, beide Frauen zu verletzen, indem er wiederholt auf seine frühere inzestuöse Beziehung zu Augusta anspielte.
 
Nur etwa ein Jahr lebte Byron mit Annabella zusammen. Während dieser Zeit quälte er sie durch wahllose Kontakte zu diversen Frauen und andere seelische Grausamkeiten. In diesem Jahr wurde sein einziges legitimes Kind, die Tochter Ada, geboren. Sie sollte sich, darin ihrer Mutter nachschlagend, als naturwissenschaftlich begabt erweisen und wurde später eine bekannte Mathematikerin. Byron hatte an ihrer Entwicklung keinen Anteil, denn kurz nach der Geburt des Kindes flüchtete seine Frau mit dem Säugling zu ihren Eltern. Sie sollte ihren Mann nie wieder sehen. Die Trennung machte Byron einmal mehr zum Stadtgespräch Londons.
 
 Childe Harold wieder auf Pilgerfahrt
 
Nach all diesen Wirren und Skandalen entschloss sich Byron, England wie seinen Gläubigern zum zweiten Mal den Rücken zu kehren. Er kam nie mehr auf die »winzige Insel« zurück.
 
Mit seinem Leibarzt und einigen Dienern bestieg er im April 1816 in Dover das Schiff. Gleich zu Beginn der Reise nahm er die Arbeit am dritten Gesang seines Childe Harold auf. Darin verarbeitete er unter anderem seine Reise durch Belgien, wo er auch das Schlachtfeld von Waterloo besichtigte, den Ort der endgültigen Niederlage Napoleons, den er einmal sehr bewundert hatte. Einige Strophen über eine Bootsfahrt auf dem Rhein sind Byrons einzige dichterische Beschreibung einer deutschen Landschaft.
 
Im Frühsommer 1816 traf er bei Genf Percy Bysshe Shelley, den zweiten großen englischen Dichter seiner Generation, und dessen Frau Mary. Eines Abends, nach einer ausgedehnten Diskussion über Geister, Übersinnliches und die Natur des Lebens, schlug Byron den Shelleys vor, jeder solle eine Geistergeschichte schreiben. Erstaunlicherweise nahmen weder Shelley noch Byron selbst den Vorschlag ernst. Nur die damals erst neunzehnjährige Mary Shelley vollendete ihre Erzählung. Sie wurde unter dem Titel Frankenstein weltberühmt.
 
Bei den Shelleys weilte Marys Stiefschwester Claire Clairmont, mit der Byron in London ein Verhältnis gehabt hatte, das sich hier fortsetzte (die Tochter Allegra aus dieser Verbindung wurde im Januar 1817 geboren). Mit Shelley selbst sollte ihn bis zu dessen Tod die wohl größte Dichterfreundschaft der englischen Literaturgeschichte verbinden.
 
Unter dem Eindruck einer Reise durch die wilde Bergwelt des Berner Oberlandes schrieb Byron im Herbst und Winter 1816/17 sein von Goethes Faust inspiriertes Drama Manfred, in dem er seine Schuld- und Reuegefühle sowie seine Enttäuschung über die gescheiterten Beziehungen zu seiner Frau und seiner Schwester verarbeitete. Für Manfred wie für seinen Dichter gab es nur eine Frau, mit der er »einst des Daseins Kette trug«. Es kann als sicher gelten, dass hinter Manfreds geheimnisvoller Sünde, die ihn quält und in den Wahnsinn treibt, Byrons Beziehung zu seiner Schwester steht.
 
 In Venedig
 
Im Frühsommer 1817 ließ Byron sich in Venedig nieder. Für die Faszination dieser Stadt, ihre stolze Pracht und Herrlichkeit, gepaart mit der Melancholie untergegangener Größe, zeigte sich der Dichter äußerst empfänglich. Man kann dies wohl nicht besser beschreiben, als er selbst es im vierten Gesang seines Childe Harold tat. Hier war Byron zudem nach seinem Aufenthalt in Griechenland 1810/11 zum zweiten Mal mit der Unterdrückung eines Volkes durch eine ausländische Besatzungsmacht konfrontiert. Venedig war wie ein Großteil Norditaliens von Österreich besetzt, und Byrons Sympathie für Widerstandsbewegungen fand neue Nahrung. Auch seine sonstigen Reisen durch Italien, so etwa nach Rom und Florenz, sind im vierten Gesang des Childe Harold verewigt. Die Umgebung von zerfallenden antiken Monumenten spiegelt Childe Harolds innere Gemütsverfassung wieder; die eines Einzelgängers, verlassen von allen, zwar mit großer Vergangenheit, aber mit einer Gegenwart, die nicht düsterer hätte aussehen können. Er sieht sich als »eine Ruine inmitten von Ruinen«. Italien ist Childe Harolds »Leidensgenosse«. Genau wie Byrons literarisches Alter Ego Harold sich selbst von der Gesellschaft ausgestoßen fühlt, so wird Italien von der internationalen Staatengemeinschaft gegen die österreichische Besatzung im Stich gelassen.
 
Inzwischen konnte sich der Dichter einen extravaganten Lebensstil leisten, da Newstead Abbey für die damals ungeheure Summe von 94 500 Pfund einen Käufer gefunden hatte und auch die Tantiemen aus seinen Werken nun reichlich flossen.
 
Auch während seines Aufenthalts in Venedig hatte Byron zahlreiche Affären. Besonders faszinierten ihn einfache Frauen, »ihre leuchtenden Augen, ihre hingebungsvolle Leidenschaft und ihr rustikaler Humor«; sinnliche Vergnügungen mit diesen Frauen waren für Byron eine innere Rache an der kalten, »mathematischen« Annabella. An eine Frau gebunden fühlte er sich aber erst wieder, als er im April 1819 auf einer Soirée die neunzehnjährige Gräfin Guiccioli kennen lernte. Sie war mit dem beinahe 40 Jahre älteren Grafen Alessandro Guiccioli verheiratet und nahm sich Byron als Liebhaber. Sie wurde nach Augusta zu seiner zweiten großen Liebe und war in den Jahren 1819 bis 1823 die wichtigste Bezugsperson für ihn. Ihr reiste er im Juni 1819 nach Ravenna nach, wo ihm ihr Mann in seinem Palast eine ganze Etage überließ. Der Dichter wurde zu einem anerkannten »Cavaliere Servente«, dem offiziellen Geliebten einer italienischen Adligen.
 
Durch Teresa Guicciolis Familie, insbesondere durch ihren Vater Graf Gamba und ihren Bruder Pietro, kam Byron mit dem italienischen Widerstand in Kontakt, den er im Folgenden materiell unterstützte.
 
 Don Juan und der literarische Zirkel in Pisa
 
Während des Italienaufenthaltes schrieb Byron sein aus heutiger Sicht bedeutendstes Werk, das Fragment gebliebene Versepos Don Juan. In sechzehn Gesängen mit insgesamt über 15 000 Versen finden wir einen völlig neuen Byron. Während der Dichter im Childe Harold noch angesichts der Unvollkommenheit der Welt in tiefe Melancholie verfällt, wird Don Juan zur spöttischen, aber doch wohl wollenden Satire menschlicher Schwächen. In beinahe alltäglicher Sprache und mit bewusst gewagten, komischen Reimen beschreibt Byron die Abenteuer seines Helden und schreckt auch vor sonst tabuisierten Themen nicht zurück. So kritisiert er moralische, religiöse und politische Heuchelei und macht sich über soziale Normen und die Sexualmoral seiner Zeit lustig, insbesondere auch über die Institution Ehe. Immer wieder schweift er ab, greift in bissigen Seitenhieben seine Zeitgenossen an und gestaltet verschiedene Personen und Situationen nach eigenen Erlebnissen. So schrieb er seinem Freund Hobhouse, dass im Don Juan nichts erfunden sei, sondern vielmehr alle Episoden entweder von ihm selbst erlebt oder ihm von Freunden in Erzählungen zugetragen. Der von Byron bewunderte Goethe, dem der Dichter sein heute fast vergessenes Werk Sardanapalus widmete, bezeichnete den Don Juan als »grenzenlos geniales Werk« und übersetzte Teile daraus ins Deutsche.
 
Im September 1821 schrieb er seine bissigste politische Satire, Die Vision vom Gericht. Nachdem im Jahre 1820 der im Volke unbeliebte englische König Georg III. in geistiger Umnachtung gestorben war, hatte der Hofdichter Robert Southey einen peinlichen poetischen Nachruf auf ihn verfasst, in dessen Vorwort er Byron scharf kritisierte. Southey war in jüngeren Jahren als Revolutionär bekannt gewesen; so hatte er mit seinem Dichterfreund Samuel Taylor Coleridge die Gründung einer sozialistischen Modellgemeinschaft in Amerika geplant. Er wandelte sich später jedoch zunehmend zum Konservativen und wurde ein obrigkeitstreuer Opportunist, weswegen ihn Byron zutiefst verachtete. Byron parodierte nun diese ihm unerträgliche Lobeshymne, indem er sowohl Southey als auch den geisteskranken, im Himmel Einlass suchenden König mittels einer himmlischen Gerichtssitzung, in der sich Gott und der Teufel um die Seele des verstorbenen Königs streiten, lächerlich machte.
 
Ab November 1821 lebte Byron mit Teresa, die ihren Mann inzwischen offiziell verlassen hatte, in der Nähe der Shelleys in Pisa; dort setzte sich die literarisch anregende Freundschaft mit Shelley fort. Doch der Freund ertrank im Juli 1822 bei einer Bootsfahrt im Meer. Zusammen mit mehreren Freunden verbrannte Byron am 16. August in einem von ihm selbst so bezeichneten »heidnischen Ritual« die angespülte Leiche Shelleys am Strand von Viareggio.
 
Wenig später zog Byron, durch die österreichische Besatzungsmacht dazu gezwungen, nach Genua. Trotz der Anwesenheit von Teresa Guiccioli, die versuchte, den Geliebten zu halten, konkretisierten sich lang gehegte Pläne, den griechischen Freiheitskampf gegen die türkische Besatzung zu unterstützen.
 
 
Im Juli 1823 brach Byron mit einem eigens ausgerüsteten Schiff und einigen Dienern nach Griechenland auf. Er verbrachte zunächst einige Monate auf den Ionischen Inseln, wo er mit Vertretern der verschiedenen rivalisierenden Fraktionen im mittlerweile offen geführten Unabhängigkeitskampf zusammentraf, deren Führer um die Gewinnung eines so berühmten und auch besonders finanzkräftigen Verbündeten wetteiferten. Byron entschied sich schließlich für den Prinzen Alexander Mavrocordatos, den späteren griechischen Premierminister, da er ihm am ehesten zutraute, die Griechen zum gemeinsamen Kampf vereinen zu können. Dessen Basis in Missolonghi, an der nördlichen Seite der Meerenge zwischen dem Festland und der Halbinsel Peloponnes gelegen, erreichte Byron im Januar 1824, nachdem es ihm gelungen war, die türkische Seeblockade zu durchbrechen.
 
In Missolonghi empfing man ihn mit militärischen Ehren. Er fand sich hier jedoch zur Untätigkeit verdammt, da wegen des schlechten Wetters und der Zerstrittenheit der griechischen Widerstandsgruppen kein sinnvoller Einsatz der von ihm finanzierten Truppen möglich war. In dieser Lage verfiel der Sechsundreißigjährige in Lethargie. Er bezeichnete sich als vorzeitig gealtert, beklagte seine schütter und grau gewordenen Haare, seine Korpulenz und den Verlust seiner männlichen Schönheit. Todesahnungen und Lebensüberdruss quälten ihn. Seinem Arzt gestand er kurz vor seiner letzten Krankheit: »Glauben Sie, ich sehnte mich nach Leben? Ich habe es gründlich satt und werde die Stunde willkommen heißen, da ich aus ihm scheide. Warum sollte ich ihm nachtrauern? Kann es mir noch Vergnügen bereiten?. .. Wenige Menschen können schneller leben, als ich es tat. Ich bin im wahrsten Sinne des Wortes ein junger alter Mann. Kaum erwachsen, erreichte ich den Zenith meines Ruhmes. Vergnügen habe ich in jeder nur denkbaren Form kennen gelernt. Ich bin gereist, habe meinen Wissensdurst gestillt und jede Illusion verloren.«
 
Bei einer Bootsfahrt zog er sich eine schwere Erkältung zu und starb nach einigen Tagen des Todeskampfes am 19. April 1824 am Fieber, nicht zuletzt infolge der Unfähigkeit seiner Ärzte. Sein Leichnam wurde nach England überführt und in der Familiengruft der Byrons in Hucknall Torkard, dem Nachbardorf von Newstead Abbey, beigesetzt.
 
Wenn er auch selbst nicht mehr entscheidend zur griechischen Befreiung beitragen konnte, verhalf sein Engagement doch der Befreiungsbewegung letztlich zum Durchbruch. Alle griechischen Fraktionen stilisierten ihn zum Märtyrer, und die gemeinsame Identifikation mit ihm verhalf ihnen zur nötigen Einigung. Noch heute sind in vielen griechischen Städten Straßen und Plätze nach ihm benannt.
 
Ganz Europa betrauerte den Tod einer schillernden Dichterpersönlichkeit. Als der erst vierzehnjährige Alfred Tennyson, später einer der bedeutendsten Dichter des viktorianischen England, von Byrons Tod erfuhr, ritzte er bei einem Waldspaziergang die Worte »Byron ist tot« in einen Felsen. Der zeitgenössische Dichter Allan Cunningham schrieb im London Magazine: »Die Nachricht von Byrons Tod traf London wie ein Erdbeben
 
Doch den wohl bewegendsten Nachruf schrieb Byron sich selbst. Im vierten Gesang seines Childe Harold heißt es:
 
Ich habe doch gelebt, und nicht vergebens:
 
Ob dieser Geist erlahmt, dies Herz versiegt,
 
Ob dieser Leib zerbricht im Kampf des Lebens,
 
Eins ist in mir, was Zeit und Qual besiegt,
 
Was atmen wird, wenn dieser Hauch verfliegt;
 
Ein Etwas, das ihr Ohr noch nie vernahm,
 
Wie Nachhall der verstummten Harfe, wiegt
 
Einst ihren Groll in Schlaf, und wundersam
 
Weckt es in fels'ger Brust der Liebe späten Gram.
 
Jens Gurr und Frank Erik Pointner
 
Byron, Shelley, Keats. Ein biographisches Lesebuch, herausgegeben von
 
 
Hartmut Müller: Lord Byron. Reinbek 1997.
 Anne Fleming:The myth of the bad Lord Byron. Cuckfield 1998.
 Peter W. Graham: Lord Byron. New York 1998.

Universal-Lexikon. 2012.

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